Teil 1

Sie lief am Fluss entlang und Pantalaimon trottete neben ihr her. Zwei Jahre waren vergangen, zwei lange Jahre. Immer noch klopfte ihr das Herz jedes Mal bis zum Hals, wenn sie die Luft über dem Asphalt flimmern sah. Doch leider hatten diese Veränderungen in der Luft immer eine ganz vernünftigen Erklärung. Ein Fenster konnte sie nie entdecken. Xaphania und ihre Engel hatten wirklich gute Arbeit geleistet.
Sie wusste, dass es so wohl besser war. Doch es war einfach nicht leicht, sich auf die eigene Welt zu konzentrieren, wenn man andauernd Wills Bild in seinem Kopf hatte.
Zum Glück gab es die Stunden, in denen sie das Alethiometer studieren konnte. Wenn sie, ihr Alethiometer auf dem Schoß, Dame Hannah auf dem persischen Teppich in deren Zimmer gegenübersaß, die Bücher neben sich und Pantalaimon auf ihrer Schulter, dann vergaß sie alles und lauschte interessiert den Lektionen ihres Gegenübers.
Doch im Moment war sie mit anderen Dingen beschäftigt.
In den kurz bevorstehenden Sommerferien würde sie mit Pantalaimon in den Norden fahren um Iorek wiederzusehen. Sie war gespannt, wie Svalbard jetzt wohl aussehen würde. Und natürlich würde sie Serafina wiedersehen, deren Dæmon Kaisa hatte ihr die Einladung des Panzerbären bereits vor Monaten gebracht.

Nur noch zwei Wochen, zwei Wochen und sie würde in See stechen. Die Gypter würden sie nach Norden zu einem Hochseehafen bringen. Diesmal würde sie sich allerdings nicht unter Deck verstecken müssen sondern Bills Vater auf dem Schiff helfen können. Das einzig Bedauerliche war, dass Father Coram nicht mitkommen würde, die Reise und die nordische Kälte wären einfach zu anstrengend für den alten Mann.

Pantalaimon stupste Lyra an. Es war Zeit um in das Internat zurückzukehren, sie wollten Mrs. Morland nicht verärgern. Und außerdem hatte Lyra Rachel versprochen noch mit ihr schwimmen zu gehen. Rachel würde mit in den Norden kommen. Genau wie Lyra hatte Rachel keine Eltern mehr und niemand würde sich in den Ferien um sie kümmern.
Mrs. Morland, Rachels Vormund, hatte zugestimmt.
Am Tor kamen ihr schon Rachel und Nimrod entgegen.

Nimrod war Rachels Daemon und nicht ganz gewöhnlich. Er hatte lange Zeit einfach keine Lust gehabt eine feste Gestalt anzunehmen. Als Lyra in die Schule gekommen war, war Nimrod der einzige Daemon gewesen, der seine Gestalt noch wechseln konnte und das war einer der Gründe warum einige der Anderen hinter Rachels Rücken tuschelten. Lyra dagegen hatte sich schnell mit dem stillen Mädchen angefreundet und auf ihren Wunsch hin belegten sie zusammen ein Doppelzimmer. Eines Abends erzählte Lyra Rachel ihre Erlebnisse der letzten Zeit.
Am nächsten Morgen hatte Nimrod eine feste Gestalt angenommen.
Als Lyra aufgewacht war, hatte sie zuerst gedacht, sie würde noch träumen. Bei Rachel lag ein leuchtend rot-orangener Vogel, so schön wie Lyra noch nie einen gesehen hatte. Langsam wurde ihr klar, dass dies nur ein Phoenix sein konnte.
Diese Wesen existiertne in ihrer Welt eigentlich nur als Sagengestalt und es kam sehr selten vor, das ein Daemon als feste Gestalt ein fantastisches Wesen annahm.

Der See war recht kühl, deshalb waren Lyra und Rachel auch die einzigen, die schwimmen gingen. Da Nimrod fliegen konnte und Pantalaimon sich so weit entfernen konnte wie er wollte schwammen, sie sehr weit hinaus.
Pantalaimon war etwas wasserscheu und schaute den anderen von einer hohen Eiche aus zu.
Die beiden Mädchen genossen die Zeit sehr, es war eine gute Methode, sich von den zukünftigen Ereignissen abzulenken. Die Ferien waren schließlich nicht mehr weit.
Zurück im Internat aßen sie dann zuerst mit den anderen zu Abend um sich dann in ihr Zimmer zurückzuziehen.
Die nächste Zeit verging wie im Flug, bald war der Abend vor der Abreise gekommen.
Zwar hatten die beiden Mädchen schon längst alles gepackt (Lyra hatte beschlossen, auch das Alethiometer mitzunehmen), doch konnten sie einfach nicht einschlafen und lagen noch lange wach, um miteinander über die künftigen Ereignisse und auch die verschiedenen Sorgen zu reden.

Am nächsten morgen standen sie früh auf, denn die Gypter wollten um elf Uhr am Fluss sein und Bills Vater wollte schon um halb zehn kommen, um die beiden abzuholen.
Bei ihrem Treffen stellte Lyra fest, dass Bills Vater sich kaum verändert hatte, nur die Sorgenfalten waren aus seinem Gesicht verschwunden.

Am Flussboot angekommen schloss sie Ma Costa in die Arme. Rachels Angst, an Bord nicht wirklich akzeptiert zu werden, war unbegründet gewesen. Die Gypter schlossen sie schnell in ihr Herz. Natürlich faszinierte sie auch Nimrod, der auf Rachels Schulter saß. Sie verabschiedeten sich von Mrs. Morland und dann waren sie schon auf dem Fluss. Ma Costa zeigte ihnen ihre Koje und Lyra fühlte sich gleich wie zu Hause. Die Gypter waren wie eine Familie für sie. Und auch Rachel würde sich während der Reise geborgen fühlen.

Später in den Sümpfen trafen sie auch andere gyptische Familien und nahmen Post entgegen. Zu Lyras Überraschung war auch ein Brief für sie dabei. Er kam vom Direktor des Jordan Colleges, ihrem Vormund.

"Liebe Lyra,
erst einmal wünsche ich dir meine Grüße und besten Wünsche für die Reise.
Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber ich muss dir etwas mitteilen.
Zwar ist die Kirche nicht mehr so mächtig wie noch vor zwei Jahren aber sie ist nicht zu unterschätzen. Aus verschiedenen Quellen habe ich beunruhigendes erfahren.
Die Kirche hat Angst, ihre Macht könnte noch mehr geschwächt werden.
Deshalb hat sie immer noch Angst vor dir. Noch bist du ungefährlich,
aber sie haben sie fürchten, dass du ihnen bald Probleme bereiten könntest.
Und sei es nur dass du erzählen würdest, was du erlebt hast.
Sie wissen von deiner Wirkung auf Menschen und haben Angst, die Leute könnten dir glauben. Ich weiß, wenn du erst mal in Svalbard bist, wirst du sicher sein, aber auf dem Weg dorthin sei bitte vorsichtig. Im Hochseehafen werden dich ein paar Hexen treffen. Um euren weiteren Weg zu sichern. Serafina ist ebenso besorgt wie ich."
Gezeichnet: Rektor des Jordan Colleges

Entgegen den Befürchtungen des Rektors verliefen die nächsten Tage relativ ruhig, doch das Misstrauen der anderen war geschürt, die Gypter teilten nachts Wachen ein.
Lyra hatte es für besser gehalten, ihnen den Brief zu zeigen, die Kirche war ein ernstzunehmender Feind.
Entgegen ihren Erwartungen trafen sie einige Tage später jedoch sicher in Rehrt, dem Hochseehafen ein. Doch die Hexen, von denen der Rektor geschrieben hatte, waren noch nicht da.
Sie warteten einen Tag, sie warteten zwei Tage doch die Hexen kamen nicht. Als sie nach fünf Tagen noch nicht da waren, beschlossen Lyra und Rachel, sich alleine auf den Weg zu machen. Die Hexen hatten sich wahrscheinlich nur verspätet und ihr Schiff würde morgen auslaufen. Würden die Hexen noch nachkommen, könnten sie das Schiff dank ihres guten Orientierungssinnes sicherlich noch finden.